Narzissmus als Lebensprinzip

 von Manuel Kreitmeier

Rigorose Selbstverwirklichung sei das einzig erstrebenswerte Ziel des Lebens, predigt Lord Henry Wotton, der nihilistische Verführer des Jünglings Dorian Gray. Und er fügt hinzu: „Der Tod, der Verfall dauern endlos. Die Jugend, die herrliche Jugend nur so kurze Zeit. Leben Sie jetzt! In vollen Zügen. Sie haben alle Möglichkeiten dazu. Carpe diem!“ Was dann folgt ist ein Leben außer Rand und Band. Ein Leben auf der Überholspur, bei dem sich Genuss an Genuss reiht und am Ende nur Leere und Zerstörung übrig bleiben.

Oscar Wildes einziger Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“ von 1891 ist es wert neu durchdacht zu werden, sind wir westlichen Menschen des 21. Jahrhunderts doch ähnlich narzisstisch deformiert, wie die Charaktere dieses Buches. Wir fühlen uns als Auserwählte, als Mittelpunkt der Schöpfung. Unsere Kleidung, unsere Lebensmittel, unsere Weltanschauung. Alles muss perfekt zu uns und unserem Selbstbild passen. Wir sind individuell bis zum Gendersternchen. Ja, keiner soll Abzüge seines Selbstwertes erfahren müssen. Sich selbst nicht so wichtig zu nehmen, steht wahrhaft nicht hoch im Kurs. Und doch ist dies nur die eine Seite der Medaille. Denn wir sind Privilegierte in einer Welt, die noch immer bestimmt ist von Krieg, Hunger und Ausbeutung. Unsere Privilegien sind erkauft und den Preis dafür zahlen wir nicht selbst.

Es ist doch auch hier ähnlich wie zu Oscar Wildes Zeit. Heute kommen uns die Selbstgerechtigkeit, die Prüderie, die kolonialen Ausschweifungen der Viktorianischen Gesellschaft zutiefst verlogen vor. Oscar Wilde beschreibt sie und tummelt sich selbst darin als exemplarischer Protagonist seiner Zeit. Sein Leben und Denken schwankt zwischen Exzess und Christentum, Nihilismus und Sozialutopie. Wohl wenige Leben waren so schillernd und widersprüchlich, so voller Höhenflüge und Abstürze wie das des irischen Dichters. Er war Dandy, Gesellschaftslöwe, Sozialist, Katholik, Familienvater, Homosexueller und Sextourist in Algerien. Auf dem Gipfel seines Ruhms hatte er die Deutungshoheit in England in Sachen Mode, Literatur und Lebensart. Er war darüber hinaus der meist gespielte Theaterautor seiner Zeit. Am Ende seines Lebens war er ein verurteilter Straftäter und im letztem, einsamsten Kapitel, dem seines Sterbens, ein Exilant, dessen Namen man nicht mehr nennen durfte. 

„Das Bildnis des Dorian Gray“ ist Ausdruck dieses Lebens, öffentliches Outing und schonungslose Selbstoffenbarung. Und natürlich birgt der Roman dieselben Widersprüche wie Wildes Leben. Er ist Bibel des Ästhetizismus und Kritik desselben. Er ist voll vergifteter Theorien und zugleich hoch moralisch.

Eine Dramatisierung bietet sich geradezu an. Der Roman ist voll herrlich ironischer Dialoge und doch bleibt er für einen heutigen Leser stark zeitverhaftet und seine Wirkung weit hinter der Schlagkraft, die er bei seiner Erstveröffentlichung hatte, zurück. In einer Dramatisierung muss es also um eine Neuschaffung, einen Transfer zur Gegenwart gehen. Die Dialoge des Stücks sind neu geschrieben, doch folgen sie den Gedanken und der Dramaturgie des Originals. Auf den letzten Seiten bleibt die Frage nach der Seele und nach dem Menschen als sozialem Wesen. Zu spät? Wildes Figuren halten sich ebenfalls für Auserwählte, grenzen sich ab von der Gesellschaft und den von ihnen verachteten gewöhnlichen Menschen. Sie frönen unverhohlen ihrer Selbstverwirklichung und sind doch nur mehr gelangweilte, todes-sehnsüchtige Libellen.  Ja, sie scheinen in ihrer Egomanie und ihrer Weltvergessenheit einander zuzurufen: Seht her, wir sind Versinkende, aber wir versinken schöner und klüger als ihr anderen! Doch am Ende bei Wilde immer der Kniefall vor den Füßen des Kreuzes, der Schrei nach Gott.

Wo Oscar Wilde und seine Figuren noch Zerrissene sind zwischen der Anbetung ihrer eigenen Fetischobjekte und einem zutiefst verwurzelten Gefühl von Schuld und Vergebung, sind wir Heutigen fast gänzlich befreit von den Fesseln der Religion. Wir sind aufgeklärte Menschen, wir verachten die Sünde und mit ihr die Religion. Wir glauben uns rundum informiert und stetig mitspracheberechtigt. Doch greifen unsere Erklärungsansätze nicht zu kurz, da sie nur uns selbst zum Zentrum haben?     

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