In der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 rammt die Titanic, das bis dahin größte Schiff aller Zeiten, auf ihrer Jungfernfahrt von Southhampton nach New York einen Eisberg und sinkt. Die Geschichte dieses Unglücks ist vor allem die Geschichte der Überlebenden. 710 Menschen sind dem Tod entkommen, über 1500 haben es nicht geschafft. Wenige Tage später beginnt eine eilends anberaumte Anhörung vor einem Untersuchungsausschuss unter Leitung des Senators William Alden Smith in New York.
Über tausend Seiten fasst das Konvolut aus mehr als 80 Zeugenaussagen und eidesstattlichen Erklärungen. Die Befragungen sind sprunghaft und detailversessen. Welche Position genau, Länge, Breite, Uhrzeit, wer kam von und ging nach wo, wo war dieser, was tat jener. Die Befragten sind bei der Vernehmung unterschiedlich gefasst. Traumatisiert sind alle, schuldbewusst all diejenigen, deren Fehler oder Fehleinschätzung zur fatalen Kollision geführt haben. Denn wie nach jeder Katastrophe braucht die Öffentlichkeit jemanden, der zur Rechenschaft gezogen werden kann. Doch es sind zu viele Fehler, die alle ineinandergreifen, um einen einzigen Schuldigen ausfindig zu machen. Und es gibt einen schon überirdisch anmutenden Teil an äußeren Faktoren, die das Desaster herbeiführten.
Die „Wahrheit“ über den Untergang ist also ein Gefüge aus vielen Stimmen und Positionen. So wie alle Wahrheiten. Unsere heutige, zu Eindeutigkeit und Bekenntniskultur neigende Welt, kann schwer damit umgehen, dass es die „Wahrheit“, ja sogar richtig oder falsch nicht gibt, gar nicht geben kann. Auf Fragen muss es eine definitive Antwort geben. Und ebenso: Der Verantwortliche, der Schuldige muss ausfindig und dingfest gemacht werden. Doch jeder Betrachter selbst ist Teil eines historischen Gefüges. Die Antworten von heute werden niemals die Antworten von morgen sein. Jegliche Interpretation fügt dem zu betrachtenden Gegenstand einen Hauch weißes Rauschen – den eigenen blinden Fleck - hinzu. Dies war der Ausgangspunkt unserer Überlegungen: Das Publikum in eine packende Geschichte zu verwickeln, es zu nötigen, immer wieder neu Partei zu ergreifen, den Hauptverantwortlichen in jedem auszumachen und daraus den Schluss zu ziehen, dass Widersprüche eben nicht aufgelöst werden und Wahrheiten nie endgültig statuiert werden können.
Die Grundlage zu Manuels Theaterstück sind die Originaldokumente dieser Anhörung, mitunter ergänzt durch Teilaussagen aus der späteren Befragung in Großbritannien, kurze Zeit später. Anhand von sieben Figuren erzählt er die Geschichte jener Nacht. Die Zeugnisse des Unglücks von sieben Menschen werden exemplarisch zu theatralen Situationen verdichtet. Es ist zuvorderst ein sachlicher Text. Ein Anhörungsprotokoll, noch dazu noch nicht einmal eines mit juristischen Konsequenzen. Niemand wird danach offiziell verurteilt worden sein. Ruf und Ansehen einiger dieser Personen aber, werden über deren Tod hinaus beschädigt, gar für immer zerstört sein.
Die sachliche Ausgangslage wird im Laufe des Stückes von der Dramatik der Geschichte überrollt. Flashbacks häufen sich, Ohnmacht und Fassungslosigkeit kapern das nüchterne Frage- und Antwortspiel. Hier führt die Regie den Stift.
Es kommt zum Transfer, einer subjektiven Interpretation der Aussagen, die den Unterschied zwischen Dokumentation und Kunst ausmacht. Künstlerisch gilt es, Farbe zu bekennen. Die Charaktere zuzuspitzen. Erst textlich, dann szenisch ins Bild gesetzt durch Regie – durch Anordnung im Raum, den Einsatz von Kostüm und Requisite – und intellektuell-emotional durch Schauspiel. Tritt nun Musik als vierte Dimension hinzu, so ist es an ihr, etwas anderes einzubringen, nicht bereits Erzähltes zu doppeln.
Musik ist immer um uns. Es wird so viel Musik gehört wie noch nie und doch wird sie größtenteils überhört. Im medialen Kontext begnügt sie sich mit der passiven Rolle, das zu verstärken, was gewünscht wird. Kind ist traurig – traurige Musik, Kind ist fröhlich – fröhliche Musik, Monster unterm Bett – tiefer Ton, spannende Musik, plötzlich lauter Knall. Hollywood & Co haben unsere Reaktion auf einen Pawlow’schen Hundereflex reduziert: Es macht Bing und der Sabber läuft.
Für mich bedeutet daher für die Bühne zu komponieren eine Auseinandersetzung mit dem, was im Bild noch nicht gezeigt wird oder außerdem gezeigt werden könnte. Oder sogar etwas anderes zu zeigen, als es Text und Bild vermuten ließen – einen Kontrapunkt, eine Gegenstimme. Mit einem solchen beginnt die Musik zu Titanic, und sie muss dort einsetzen, wo das Schiff ablegt. Gleich zu Anfang sucht sie den Kreisschluss mit dem Ende. Mehrere Passagiere berichteten, die an Bord verbleibenden Musiker der Titanic hätten sich an Deck aufgebaut und den Choral „Nearer, My God, to Thee“ angestimmt, seien begleitet von dieser Musik mit dem Schiff untergegangen. Eine wunderbare Melodie, eingängig wie anrührend. Kompositorisch ebenso wirkungsvoll wie naheliegend: Das Schiff geht unter, Choral kommt, alle traurig.
Der Choral muss kommen, das erfordert schon der Stoff. Einen solchen musikalischen Hinweis zu übergehen, wäre falsch. Doch die Melodie ist in Dur, hat etwas Freundliches, ein goldenes Strahlen im Streben nach dem Allerhöchsten. Der Reeder Ismay beschreibt also, wie die Kessel angeheizt wurden, und die Maschinen immer schneller und schneller – viel zu schnell – auf Hochtouren getrieben wurden. Näher zu Gott, göttergleich höher, weiter: den angekündigten Weltrekord noch einmal überbieten.
Das Schiff und seine Bestimmung ist das musikalische Eröffnungsstatement. Nur ist der Himmel noch freundlich und das technische Wunderwerk hat alle in den Bann gezogen. Die Bewegung der Motorik zieht sich thematisch durch die Musik. Quasi romantisch gedacht, spiegelt die äußere Bewegung die innere. Die Sequenz mit Fleet, dem Mann im Krähennest, zeigt immer wieder den gleichen Moment der Kollision. Die Nacht, das Eis, das Schiff und sein Motor, und das unheimliche Schrammen des Bugs an Steuerbord. Ein Geräusch wie von tausend Murmeln – ein ferner Donner – eine wiederkehrende traumatische Explosion in Seele und Psyche dieses Menschen, der nicht fassen kann, zu spät reagiert zu haben. Und eine Vorausdeutung auf das zentrale Stück dieses Soundtracks, dem „Iceberg“.
Den Eisberg adäquat zu komponieren hat mich schon vor dreieinhalb Jahren umgetrieben. Ich arbeitete gerade am Thema dieses Stücks, als der erste Lockdown kam. Ich hatte bis zu unserem neuen Anlauf meine Skizzen nicht mehr angefasst. Wusste auch nicht, in welchem Zustand ich die Musik hinterlassen hatte. Diese Skizzen sind vielleicht das einzige Bindeglied zum ersten Anlauf, alles andere habe ich daraus entwickelt oder ganz neu gemacht. Der Eisberg sollte auf einer deskriptiven wie auch metaphorischen Ebene funktionieren. Eine mondlose Eisnacht, so sternklar, dass nicht zu unterscheiden war, wo der Himmel endete, und das Wasser begann. Das kleine Schiff in der Unendlichkeit. Wie ein Raumschiff im All, in der Ferne die Umrisse des Eisbergs und dann das ganze Ding in seiner brachialen tödlichen Stofflichkeit, bizarr, übermächtig, mystisch. Gleißend weiß und doch ein schwarzes Ungetüm aus Schutt, Geröll und Eis. Ein Monolith aus einer anderen Welt.
Eine Hypothese aus jüngerer Zeit stellt die Vermutung an, in jener Nacht habe es durch die Kälte optische Brechungseffekte wie bei einer Fata Morgana gegeben. Das würde erklären, warum Fleet den Eisberg zu spät sah und Captain Lord von der nur etwa vier Meilen entfernt verankerten Californian dachte, das Schiff sei viel zu klein, um die Titanic sein zu können. Tatsächlich könnten so auch die Morsezeichen und das Licht der Leuchtraketen in den Kältespiegelungen verloren gegangen sein. Es ist, als wäre die Titanic wie ins Bermudadreieck eingefahren und in eine phasenverschobene Zeitfalte zu einem Paralleluniversum geraten, die alle vertrauten Naturgesetzmäßigkeiten außer Kraft setzt.