Der Verwesungsprozess der Leiche ist durch die aufgedrehte Fußbodenheizung bereits in vollem Gange. Als erstes öffnet einer der Polizeibeamten das Fenster des Appartements 41 in der Frankfurter Stiftstraße, weil er den Gestank nicht aushält. So wird sich später kein exakter Todeszeitpunkt mehr feststellen lassen. Indizien sprechen für den Nachmittag des 29. Oktober 1957, aber eindeutig belegbar ist das nicht. Es ist der erste von unzähligen Fehlern, Stümpereien und Vertuschungen, die eine vollständige Aufklärung des Falls Rosemarie Nitribitt verhindern werden.
Dennoch hat sich die Kriminalpolizei bereits einige Wochen nach Ermittlungsbeginn auf Rosemaries „Kumpel“ Heinz Pohlmann als Täter eingeschossen. Und tatsächlich ist dieser objektiv hochverdächtig, wenn nicht sogar der wirkliche Mörder. Aber es ist eine bigotte Doppelmoral, mit der hier ermittelt wird: Die Reichen und Mächtigen werden nach Möglichkeit geschont, der mittellose, kleinkriminielle und homosexuelle Pohlmann festgenagelt. Oder zumindest fast, da dieser Ende 1958 aus Mangel an Beweisen freigesprochen wird.
Pohlmann ist zehn Jahre älter als Rosemarie; ein stattlicher, kräftiger Mann, mit der Aura eines spießigen Oscar Wilde. Frankfurt ist ein gutes Pflaster, um sich als homosexueller Mann zu bewegen, allerdings immer unter dem Gebot äußerster Vorsicht, da der Paragraf 175 sexuelle Handlungen unter Gleichgeschlechtlichen unter Strafe stellt und hier und da gerne von der Staatsanwaltschaft ein Exempel statuiert wird. Für Pohlmann und Rosemarie ist die Freundschaft nach außen hin eine Win-Win-Situation. Pohlmann tarnt sich mit der begehrenswertesten Frau der Region, erhöht sich durch sie, gibt mit seinem vertrauten, ja sogar erotischen Umgang mit ihr an. Rosemarie bietet er einen gewissen Schutz in der Öffentlichkeit vor ungewollten Übergriffen und erspart ihr die Notwendigkeit, einen Zuhälter zu haben. Und es ist eine gewisse Verschworenheit unter Gleichen, die sie verbindet – beide aus einfachen Verhältnissen, der Erfahrung sich selber durchschlagen zu müssen, und immer Gefahr zu laufen, von Polizei und Justiz aus dem Verkehr gezogen zu werden.
Ihre Karriere als Prostituierte hatte Rosemarie Nitribitt selbst in die Hand genommen. Das Verhältnis zur Sexualität ist durch eine Vergewaltigung während der letzten Kriegsjahre im Alter von 11 Jahren nachhaltig gestört. Sie wächst in der Eifel bei einer Pflegefamilie auf, doch schon bald beginnt eine Odyssee durch mehrere Erziehungsheime, da von ihr schlechter Einfluss auf ihre Mitschülerinnen befürchtet wird. Der nahegelegene französische Militärflugplatz ist ein potentes Spielfeld, und Rosemarie brüstet sich gern mit ihren sexuellen Eskapaden.
Die Akte des Jugendamts wird immer dicker. Ständig reißt sie aus den Erziehungsanstalten aus, und wenn sie wieder aufgegriffen wird, so hat sie immer Geld in der Tasche. Ihr Ziel ist Frankfurt, die Stadt der Amerikaner und das Tor zur Welt. Wenn die Welt ein Leben für sie bereithält, dann in Frankfurt! Unbeugsam kämpft sie um Selbstbestimmung und erwirkt tatsächlich – die Behörden sind vollends entnervt – die vorzeitige Anerkennung ihrer Volljährigkeit.
Ein unbändiger Wille also, das Leben selbst zu gestalten und sich abzuheben vom Durchschnitt, auch vom Gebaren einer durchschnittlichen Prostituierten. Ihr Freier Mozes Natus, ein türkischer Unternehmer, schenkt ihr einen Opel Kapitän, aus dem heraus sie an den Tankstellen und vor den Luxushotels die wohlhabenden Männer mit der Lichthupe angräbt. Es ist die Mischung aus frech-mädchenhafter Koketterie und dem gewissen Hauch von Luxus, der sie schnell zur Marke werden lässt. Ihren Mercedes 190 SL verdient sie sich selbst. Ein Auto, das nur ganz wenige sich leisten können. Durch geschicktes Marketing, ihre Intelligenz und Wandlungsfähigkeit und einen rigiden Sparwillen steigt sie auf an die Spitze der Topverdiener des Landes. Zu ihr kommen die Reichen, die mächtigen Industriellen, Politiker und Lebemänner. Doch immer ist das Ziel, neben dem materiellen Erfolg auch einen gesellschaftlichen zu erzielen. Eine Heirat mit einem hochangesehenen Mann wäre die einzige Chance, auch auf dieser Ebene gleichzuziehen. Doch welcher Mann würde es wagen, sich öffentlich zu einer Frau mit dieser Vergangenheit zu bekennen?
Die Häme – die wilden Spekulationen und Verunglimpfungen, mit der Journaille und Gesellschaft auf ihren Tod reagieren, sagt viel über das Deutschland der 50er aus. Man war neidisch auf das Luder, das so viel mehr Geld hatte als man selbst, und zutiefst befriedigt über deren Fall: „Die tote Rosemarie wurde zum Müllhaufen, auf den eine sich insgeheim vielleicht mitschuldig fühlende Gesellschaft gleichsam aufatmend ihren moralischen Kehricht warf,“ schreibt der Soziologe William E. Simmat 1959 in seiner Analyse zum gesellschaftlichen Nachecho des Mordfalls, und beschreibt die Affäre Nitribitt als „so etwas wie ein moralisches Ventil einer wesentlich bürgerlich denkenden Gesellschaft, die sich im allgemeinen nicht ernsthaft moralisch entrüsten kann, ohne sofort auf ihre eigenen lebensgefährlich schwachen Stellen zu stoßen und damit an die Stabilität ihrer Existenz zu rühren.“
Quellen: - Christian Steiger: „Rosemarie Nitribitt – Autopsie eines deutschen Skandals.“, Königswinter 2007. - Dr. Guido Golla: „Rosemarie Nitribitt – Recherchen und Theorien.“, Köln 2013. - William E. Simmat: „Prostitution und Öffentlichkeit. Soziologische Betrachtungen zur Affäre Nitribitt.“, Schmiden bei Stuttgart 1959.
Am Anfang stand ein Gedicht. Der Versuch, das Phänomen "Rosemarie Nitribitt" in wenigen Strophen moritatenhaft zu verdichten. Inspiration war eine Fernsehdokumentation. Doch irgendwie ließ mich der Stoff auch danach nicht mehr los. Es war das Interesse an der Zeit: Wirtschaftswunderjahre. Die Geschichte meiner Familie, meiner Großeltern, das enge Wertesystem, in dem auch ich noch in den 80er/90er-Jahren aufgewachsen bin. Bei den Kaffeekränzchen mit den Großeltern immer mit dabei: die Tragödien der Vergangenheit. Mein Großvater kam als einer der letzten Kriegsgefangenen aus russischer Gefangenschaft nach Deutschland zurück. Seine Zehen erfroren, seine Seele - darüber sprach man nicht. Meine Großmutter mütterlicherseits: eine Frohnatur. Die Dauerwelle immer perfekt. Probleme oder Konflikte wurden unter den Tisch gekehrt. Die Nachbarn sollten gut von einem denken. Echte Gespräche waren quasi unmöglich. Und dennoch, in diesem Haus gab es Wärme. Mein Opa auf dem Apfelbaum im Garten, meine Oma strickend im Wohnzimmerfauteuil. Die Heizdecke befriedigte den Drang nach Selbstbestimmung. Das Badewasser musste noch mit dem Ofen angefeuert werden. Das Haus aus den 50er-Jahren. Es war in den 80ern noch immer dasselbe. Meine Großmutter väterlicherseits, eine elegante Dame mit Pelz aus ärmsten Verhältnissen. Man sparte sich das bisschen Luxus zeitlebens vom Munde ab. Ihren Pelzmantel habe ich heute noch. Im Fundus des Theaters. Das gute Stück. Zu ihren Lebzeiten hat sie ihn nur in die Oper und zu Beerdigungen angehabt. Auch sie hatte diese unbewältigte, schlimme Vergangenheit: als Hausmädchen eines hohen NS-Funktionärs am Obersalzberg. Nach 1945 auf der Flucht von den Russen vergewaltigt. Die Vorderzähne wurden ihr eingeschlagen. Die beiden Pflegekinder vor ihren Augen erschossen. Der Nazi überlebte. In Nürnberg sollte sie nach dem Krieg für ihn aussagen. Sie hat sich geweigert. So etwas wird man nie mehr los. Eine Familiengeschichte wie Millionen andere auch. Die 50er-Jahre Prüderie, die verlogene Wohlanständigkeit, noch in den 80ern dieselbe.
Wie passt in all diese Biederkeit eine Frau wie Rosemarie Nitribitt? Und wer war sie überhaupt? Eine Sexgöttin? Eher nicht. Für die Männer war sie abwechselnd das freche Gör, die elegante Großstadtdame und das Mannequin mit eigenem Sportwagen und Innenstadtwohnung. Dabei aus einfachsten Verhältnissen. Rosis Charakter? Nach außen hin: unkompliziert. Für alles zu haben. Und dabei humorvoll und nett. In Wahrheit: eine echte Karrierefrau. Wie sie es in wenigen Jahren vom Heimkind zur Topverdienerin geschafft hat, ist bemerkenswert. Und wie jede gute Geschäftsfrau weiß sie: Man muss investieren, darf sich nicht ausruhen, muss seine Finanzen in Ordnung haben. Die Statussymbole "Auto", "Ring", "Wohnung" sind dabei weniger Konsumartikel als vielmehr Re-Investierung in ihr eigenes Image. Und ein Image hat sie: über Frankfurt hinaus. Bis in die Kreise der Reichen und Mächtigen.
Bei alldem aber bleibt Rosi dennoch ein Rätsel. Mein Stück erhebt nicht den Anspruch die Wirklichkeit nachzuerzählen. Mit den Fakten wird teilweise durchaus frei verfahren. Wir sind Theatermacher, keine Biografen. Es ist der Versuch durch die Geschichte der Rosemarie Nitribitt, durch ihre Modellierung als Kunstfigur, etwas über die 50er-Jahre zu erzählen, etwas über den Kapitalismus und seine psychischen Deformationen bei jedem Einzelnen und nicht zuletzt etwas über meine eigene Familiengeschichte. So weit weg sind diese 50er-Jahre nämlich gar nicht. Konformität gibt es noch immer. Oftmals allerdings getarnt unter dem Deckmantel des Ach-so-Liberalen. Frei sein aber heißt: mutig sein. Rosemarie Nitribitt war eine Rebellin. Sie hat die Spiele der Männer nur scheinbar mitgespielt. Für Geld mitgespielt. Letztlich aber hat sie der ganzen Welt den Vogel gezeigt.
Frankfurt im Jahr 1957 - zwölf Jahre nach der totalen Kapitulation Nazi-Deutschlands, nach etlichen Hungerwintern und einem Leben in zerbombten Städten, scheint dies alles nur noch ein unwirklicher böser Traum zu sein. Es geht vorwärts. Und vorwärts heißt in diesem Fall, dass die Spielart des Kapitalismus amerikanischer Art nun, in bundesrepublikanischer Verbrämung, auch in Westdeutschland angekommen ist. Das Wirtschaftswunder boomt: Zwischen 1950 und 1960 verfünffacht die deutsche Autoindustrie ihre Produktion und das Bruttosozialprodukt verdreifacht sich - es herrscht Vollbeschäftigung.
Es kommt nicht von ungefähr, dass Rosemarie Nitribitt ihren Weg nach Frankfurt gefunden hat. Denn in den Wirtschaftswunderjahren ist Frankfurt der pulsierende Mittelpunkt der lebenshungrigen jungen Republik und des kontinentaleuropäischen Finanzkapitalismus. Hier ist das Hauptquartier der amerikanischen Besatzungszone und einer großen militärischen Präsenz mit Luftwaffenstützpunkt der Rhein-Main Airbase. Somit wird Frankfurt auch zum Brückenkopf amerikanischer Kulturimporte. Tanzbars mit Jukeboxen, Jazzkeller, wo Stars aus den USA nach ihrem Auftritt bei den Soldaten gastieren, Eis- und Autosalons. Ein neuer, freierer “Way of Life” liegt in der Luft, und die neue deutsche Mark klingelt in den Kassen.
Rosemarie ist eine emanzipierte Frau, die ihr Schicksal in ihre eigenen Hände nimmt und im Umbruch vor allem Chancen für sich selbst sieht. Von einem Drang zum Leben und zum gesellschaftlichen Aufstieg getrieben, schlägt sie einen Weg ein, der für den Großteil der Bevölkerung höchst moralisch verwerflich ist. Um dem Leben als Dienstpersonal zu entkommen, mit dem sie als Heimkind ohne Schulabschluss schon Erfahrung hat machen müssen, schreckt sie nicht vor der radikalen Entscheidung zurück, sich als Sexarbeiterin ihren eigenen Weg zu bahnen. Dabei scheint sie kalkulierend ihre Optionen und Ziele abzuschätzen. Ihr Kalkül geht auf, wie ihr höchst erfolgreiches Business zeigt.
Rosemarie verkauft dabei nicht nur einen Service, sondern immer auch sich selbst. Im Gegensatz zu einem Arbeiter, der nach seinem Arbeitstag nach Hause geht und dann immerhin einen Raum für sich selbst hat, so begrenzt er auch sein mag, hat Rosemarie diesen Luxus nicht. Ihre gesamte Existenz ordnet sie ihrem Business unter. Von ihren Statussymbolen, in die sie investiert, wie Pelzmäntel und Diamantringe, einer hochmodernen Wohnung in der Frankfurter Innenstadt bis zu ihrem Markenzeichen, einem Luxusauto, mit dem sie sich auf Männerjagd begibt.
Es ist ein Totalprogramm, in dem Rosemarie sich allumfassend zur Ware umarbeitet, und ihren verletzlichen menschlichen Kern immer tiefer in sich begraben muss. Man denke an den sentimentalen Versuch, das Haus ihrer Pflegeeltern zu kaufen und ihren erträumten Ausstieg aus der Prostitution mit angesehener bürgerlicher Existenz. Doch das alles bleiben unerfüllte Träume.
“Sex sells!” ist die Binsenweisheit der Werbung. Hinter der kundenorientierten Fassade von der Prostituierten Rosemarie, verschwindet der Mensch Rosemarie mit seinen Wünschen, Hoffnungen und Ängsten. Die Tragik von Rosemaries Charakter liegt in ihrem eigenen Bewusstsein von sich selbst als Ware.