Sag, hast mich denn lieb?

 Hintergründe zu Arthur Schnitzlers "REIGEN"

von Florian Wetter und Manuel Kreitmeier

Zum Stück

In der einzigen Filmaufnahme des Schriftstellers von 1923, verlässt Arthur Schnitzler den Bahnhof in Stockholm, knöpft seinen Mantel um den stattlichen Leib, wechselt freundlich, nachdenklich, zugewandt noch ein paar Worte mit den Umstehenden, bevor er ein Automobil besteigt. Noch nicht einmal eine Minute dauert die Szene, und doch lässt sich innerhalb von wenigen Eindrücken die Mannigfaltigkeit seines Charakters aus seinem Gesicht ablesen. Er ist Anfang sechzig, trägt einen stattlichen Bart, der ihm Gemütlichkeit wie auch Renommee verleiht. Lebendig die Augen, um die herum sich üppig die Lachfalten eingegraben haben. Der Blick wechselt unvermittelt vom Humorigen ins Nachdenkliche. Das sind die Augen eines Mannes, der alles gesehen hat, eines umsichtigen Mediziners, dem nichts Menschliches fremd geblieben ist. Das ist das Gesicht eines Mannes, der mit allen Wassern gewaschen ist. Der viel und oft und leidenschaftlich geliebt hat. Dem übel mitgespielt wurde und den allein der Humor und die Nachsicht mit der Fehlbarkeit des Menschen rettet.

Gut zwanzig Jahre zuvor hatte er den „Reigen“ geschrieben. Er ahnte schon, es würde schwierig werden mit dieser Szenenfolge, bei der sich die Partner so lange durchwechseln, bis man bei der ersten Figur wieder herausgekommen ist. Ein Reigen eben – ein argloser, banaler Volkstanz, dessen einziger Sinn in der gemeinsam Umdrehung liegt. Da gibt es kein Gestern, kein Morgen, keine Absicht über den Tanz hinaus. Nur die Schönheit der Gegenwart, die nie so gegenwärtig und selbstvergessen ist, wie beim Sex. Den hat er ausgespart beim Schreiben und durch eine Zeile mit Gedankenstrichen ersetzt. Es gibt nur das Vorspiel, das ihn herbeiführen soll, und das Danach, wenn die Beteiligten sich zu ihm verhalten müssen: „In jeder der Szenen wird feuilletonistisch-witzig nachgewiesen, dass die Brunst des Männchens nach der Vereinigung erloschen ist“, schreibt Joseph Roth. Mitunter hat sich der Status der Figuren umgekehrt. Im erschöpften Nachhall des Aktes ist das Bedürfnis nach Dominanz über den anderen erloschen. Man möchte auseinandergehen, ohne sich stärker binden zu müssen, oder hat begriffen, dass aus der erotischen Begegnung nichts Weiteres erwachsen wird. Und dies mit mehr oder weniger großem Bedauern.

Dieser szenische Tanz dreht sich durch alle Lebensalter und sozialen Schichten. Beginnt mit der Dirne als unterstem Wesen in der Nahrungskette der Paarung mit dem nächstunterstem, dem Soldaten, der nicht weiß, wie lange er es überstehen wird, menschliches Kanonenfutter zu sein. Und endet in der Kombination mit dem Grafen, der im Grunde überdrüssig ist von der Qual gesellschaftlicher Vergnügungen. Interessanterweise die sanfteste, am wenigstens triebhafte Figur des Stücks, die dennoch standesmäßig am höchsten steht. Auf dem Scheitelpunkt des Stücks thront die Ehe mit all ihren Erwartungen und erdrückenden Glaubenssätzen. Mit beißender Ironie führt Schnitzler hier den bigotten Gatten vor, der seiner Frau den moralischen Einlauf macht, von makelloser Heiligkeit und tadellosem Leben schwadroniert, nur um sich wenig später beim süßen Mädel kräftig davon Erleichterung zu verschaffen.

So etwas um 1900, also in der Zeit eines Kaiser Franz Joseph und eines Willhelm II. zu schreiben, noch dazu auf die Bühne zu bringen, ist im wahrsten Sinne unerhört! Schon als Buch wird der Reigen 1904 in Deutschland verboten. Und die Aufführungen werden die kommenden zwanzig Jahre immer wieder überschattet werden von Tumulten und Prozessen. Bitter über die Hassattacken und das immense Unverständnis für sein Stück notiert Schnitzler 1922: "Unter den zahlreichen Affären meines Lebens ist es wohl diese letzte, in der Verlogenheit, Unverstand und Feigheit sich selbst übertroffen haben". Er selbst verhängt ein Aufführungsverbot über sein Werk, das bis zum Tod seines Sohnes Heinrich 1982 in Kraft bleibt.

Unser Anliegen war es in diesem Sinne, diese scheinbar so kleine Szenenreihe für unser Publikum erlebbar zu machen, ohne uns dabei in verdruckste Prüderie zu flüchten, vielmehr diese selbstverständlichste Sache der Welt so abzubilden, wie sie sich für die jeweiligen Partnerinnen und Partner selbst darstellt. Entstanden ist eine Variationsfolge über die unterschiedliches Formen von Liebe und Beziehungskonstellationen. Schnitzlers Aufbau vollzieht eine zeitliche Bewegung von der Abenddämmerung ins Morgengrauen ebenso, wie die einer räumliche vom der „untersten“ sozialhierarchischen Stufe bis hinauf in aristokratische Gefilde. Dass wir hierbei der sozialen Zugehörigkeit mehr Bedeutung beigemessen haben als den Ständeunterschieden, versteht sich aus der veränderten Beschaffenheit unserer Gesellschaft. Doch die Kulisse als Symbol für die Heimatlosigkeit verbindet alle Protagonisten – so unterschiedlich sie auch sein mögen – in ihrer Sehnsucht nach Liebe, die eigentlich nie ihr gewünschtes Gegenüber findet. Virtuos passen sich die Figuren den ständig im Wandel begriffenen Beziehungskonstellationen an und üben im Hoch- oder Tiefstatus die jeweiligen Machtbefugnisse wie selbstverständlich aus. Ganz selten entstehen dabei Momente, in denen sich die Partner auf gleicher Augenhöhe befinden.

(Florian Wetter) 

Beschädigte L(i)eben…

Regie-Notizen…

Ein Motel am Rande der Stadt. Flüchtige Begegnungen. Heimatlosigkeit der Seelen. Allerorten und jederzeit: Die Einsamkeit und die Sehnsucht nach Glück.

Doch auch das „Private ist politisch“, insofern scheinbar freies Handeln immer auch Spiegel gesellschaftlicher Zwänge, tradierter Rollenbilder, erlernter Verhaltensmuster ist. Weiter: Die Spaltungen, Krisen und Erosionen der Zeit sind nirgends ablegbar. Auch nicht im Bett. Arbeitshypothese: „Make Love not War?“ IS LOVE NOT WAR?

Ein Stück über Heute durch die Augen des Gestern. Wir brauchen genügend Abstand zur Analyse. Also die 1970-er Jahre. Eine Zeit der politischen Krisen und gesellschaftlichen Umbrüche: Vietnamkrieg und Studentenproteste. Bürgerliche Wohlanständigkeit mit Schmuddelheften unterm Bett. Ein Klaps auf den Hintern, ein Griff an die Bluse - Alltag. Die Jungen machen alles anders: Hippies und „Freie Liebe“. Feminismus, aber auch Debatten über Pädo-Sex. Im orange-braun-tapezierten Esszimmer sitzt die Angst vor dem Terrorismus mit am Tisch. Am sonnigen Mittag ist gnädige Frau zum Einkaufsbummel in der Stadt: Die glitzernde Kaufhauswelt des Kapitalismus heilt alle Wunden. Die Frankfurter Schule analysiert derweil geschult an den Verwerfungen des Totalitarismus: „Das Ganze ist das Unwahre“. Die Altnazis sitzen weiter in den Institutionen. Die politischen Künstler betreiben „Publikumsbeschimpfung“ an den Theatern. Man ist empört. Im Fernsehen: Intellektuelle Debatten über Marxismus, Maoismus, Kapitalismus. Doch auch Sternstunden: Günter Gaus interviewt die Köpfe der Republik. Dazwischen in Endlosschleife: Krimiserien, Schlagersänger, Paukerstreiche. Die alten Heinz Rühmann- und Zarah Leander- Filme aus der UFA-Zeit bleiben ebenfalls im Programm. Geschafft! Samstagabend: Die ganze Familie fiebert bei „Einer wird gewinnen“ mit. Kuhlenkampf, teils erstaunlich subversiv, doch immer bürgerlich schneidig mit Toupet und gebügeltem Anzug, leitet schulmeisterlich durch die  Kandidatenspiele. Anzügliche Witzchen und Anfassen ist natürlich erlaubt. Die Damen machen gute Miene zum übergriffigen Spiel. Die RAF startet mit Bomben eine „Mai-Offensive“. Der Normalbürger fällt todmüde ins eheliche Federbett. Für Sex hat er keinen Kopf mehr. Denn auch Sex, das weiß er, ist politisch. Eine Gesellschaft ohne Abstand im hysterischen Ausnahmebetrieb.

Ein wenig klingt das alles nach Heute. Die einen klammern sich an die „gute alte Zeit“. An klar definierte Heimat-  und Geschlechterbilder:  „Deutschland, aber normal.“ Die anderen preschen vor, fordern die totale gesellschaftliche Umgestaltung und zwar sofort und ohne Kompromisse. Der Einzelmensch: Erschöpft, überfordert, frustriert. Wo die Zeit so laut ist, wird der Einzelne immer stiller. Wo die Zeit ihre Utopien so vehement verwirklicht sehen will, kann der Einzelne die Gegenwart nur verlieren. Denn wie sagt der Graf - der ewige Beobachter und Philosoph bei Arthur Schnitzler: „Aber sobald man sich nicht dem Moment hingibt, also an später denkt oder an früher .... na, ist es doch gleich aus. Später .... ist traurig .... früher ist ungewiß .... mit einem Wort .... man wird nur konfus. Hab' ich nicht recht?“         

(Manuel Kreitmeier)

 

© 2024 Theater der Immoralisten Freiburg 
   
Impressum & Datenschutz
chevron-down