DER MOND IST DER MOND

Ein symbolistisches Theaterstück? Darüber ist zu diskutieren. Eines der Hauptwerke der Dekadenzdichtung jedenfalls, von einem skandalumwitterten irischen Dandy auf Französisch, der Sprache der Poesie, geschrieben und von seinem jugendlichen Lover, Lord Douglas, ins Englische zurückübersetzt. Die Schelte folgt auf dem Fuß: Die Übersetzung sei voller „Schuljungenfehler“ und seiner, des Autors Genie „unwürdig“. Das klingt kompliziert, überkandidelt, irgendwie künstlerisch auch nicht ganz ernst zu nehmen.

Was für eine Zeit, diese 1890-er Jahre. Gesellschaftlicher Stillstand – sicher: Das eingemottete Bürgertum, gelangweilt und elitär. Auf den Straßen der Großstädte dagegen Armut, Prostitution, Elend. Klaffende Gegensätze allerorts: Oper und Bordell, Boulevard und Elendsviertel, müde Könige, opiumsüchtige Damen, effeminierte Ästheten und aufgebrachte Revolutionäre. Bei den Künstlern abwechselnd Anbetung der Schönheit, Sprachkrise, religiöser Wahn und Endzeitstimmung. Eine Epoche, der jeder Sinn für gesellschaftlichen Zusammenhalt oder spirituelle Fundierung abhanden gekommen war. Nietzsche predigte den absoluten Individualismus, den Übermenschen. Er zerschlägt philosophisch endgültig und unwiederbringlich das Gerüst auf dem diese Welt und dieser Himmel, die Sterne, Gott und der Mensch bis dahin aufgehängt waren. Am Ende seines Lebens unterzeichnet er seine Briefe mit der Signatur „Der Gekreuzigte“. Ein Gottsucher, der Gott verloren hat und an seinem eigenen „Ich“ zugrunde geht. Eine Art „Kreuzweg“ war dies allemal.

Doch zurück zur „Salome“ und zu einem ebenfalls irgendwie Gekreuzigten: Oscar Wilde. Zwei bittere Jahre wird er in einer winzigen Gefängniszelle seiner Homosexualität wegen absitzen müssen. Jahrzehnte später noch wird sein Name nur hinter vorgehaltener Hand genannt werden. Als er 1897 endlich entlassen wird ist er ein gebrochener Mann. Er stirbt verarmt und verstummt in Paris, jener Stadt, die er wie keine andere um ihrer Schönheit willen geliebt hat. In der Zelle von Reading davor aber noch zwei große literarische Eruptionen: Einen Brief an Lord Douglas mit dem Titel „De Profundis“. Zitat: „Das Schlimmste Laster ist die Seichtheit“. Dies vom Meister des literarischen Bonmots? Dann noch die zutiefst erschütternde „Ballade vom Zuchthaus in Reading“. Inhaltlich sind diese zwei Werke sicherlich das Tiefste, Authentischste, was Wilde überhaupt geschrieben hat.

Der Oscar Wilde vor dem Prozess aber, der Autor von Boulevardkomödien und dieser völlig artifiziellen „Salome“ à la Gustav Klimt mit Gold, Edelstein und zweidimensionaler Ornamentik, nimmt sich sicherlich viel weniger ernst als der wütende Orkan und an der Welt verzweifelnde Friedrich Nietzsche. Ja, Wilde sieht gar sein Leben als eigentlichen Geniestreich, sein Werk lediglich als das eines Talentierten an. Ihm scheint die eigene künstlerische „Seichtheit“, das inhaltliche Vakuum seiner Zeit und seiner eigenen Kunst durchaus bewusst gewesen zu sein. Was also macht diese „Salome“ – die Oper von Richard Strauss ist ja sicherlich ein Meisterwerk der musikalischen Avantgarde - rein als Text heute noch interessant?

Sehr vieles: Die Endzeitstimmung, die durch jede Zeile flimmert. Die Überlebtheit ihrer Figuren, ihre Sehnsucht nach Liebe und die Unfähigkeit selbst zu lieben. Die Verbindung von Eros und Tod. Die Gestaltung des gesellschaftlichen Untergangs. Der Verlust der Religion und die Sehnsucht danach. Das Gefühl, dass da mehr sein mag als die menschlichen Spiele von Macht und Rausch, Verklärung und Zerstörung, Obsession und Zerrüttung. Oscar Wilde gestaltet dies mit der einzig möglichen Form: Er setzt das in seiner Zeit erlebte Vakuum literarisch als Leere um und zwar so, dass Symbolik und Metaphorik sich selbst ad absurdum führen, dass Leere durch Fülle, durch überbordendes Ornament erlebbar wird, dass die scheinbare Bedeutung von Bildern sich selbst auslöscht. Am Ende bleibt der Mond eben doch nur der Mond, wie Herodias scharfsinnig feststellt.
Diese wahnsinnige „Salome“ ist ein Meisterwerk der Literatur, weil sich hier der Symbolist und Ästhetizist Oscar Wilde selbst kritisiert.

Ich weiß nicht, ob dem Autor dies selbst bewusst war. Ich habe sogar eher den Eindruck, dass Wilde keinen Ausweg aus dem eigenen Schönheitskult mehr gefunden hat oder finden wollte. Der Rausch an den selbst geschaffenen Bildern mag zu groß gewesen sein. Doch der Künstler Oscar Wilde schien weit mehr gewusst, verstanden zu haben, als der Mensch. Während der Mensch sich den Freuden eines Salonlöwen, dem Sextourismus in Algerien und der Provokation der viktorianischen Gesellschaft hingab, ist der Künstler Wilde viel weitsichtiger. Er sieht den Untergang – den eigenen und den gesellschaftlichen voraus, der in Überindividualismus und Narzissmus liegt, erahnt den Zusammenbruch und gestaltet ihn zu einem literarisch einzigartigen Werk.

Damit dieser Text, dieser Inhalt in Form der Ornamentik, die eigentlich Leere ist, uns heute noch erschüttern kann, muss man ihn gut durchlüften. Man braucht als Zuschauer Pausen zwischen der Bilderflut. Man braucht das Gesellschaftliche, die Zeit – Wildes und unsere und vielleicht die der Zukunft – als Rahmen für diese erschreckende Vision des Untergangs des babylonischen Königs Herodes und seiner Mannschaft. Ob das Ende - der Vulkan, dessen Asche Pompeji begraben wird, die Fluten, die Atlantis verschlingen werden, das Weltall, dass die „Bosie II“ verschlucken wird, noch abwendbar ist? Ob gar ein Erlöser kommen wird? Wir wissen es nicht. Es mag auch sein, dass wir uns einfach wieder etwas beruhigen müssen, um den Fokus auf die Lösung der Probleme unserer Gegenwart legen zu können? Diese psychedelische „Salome“ aber ist die gültige Beschreibung unserer derzeitigen Gegenwartskrise. Chapeau Mister Wilde!

(Manuel Kreitmeier)

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