“It’s all right that the world is crazy, as long as I make my little corner of the world sane.”
(Diane Lockhart in The Good Fight)
Eigentlich geht die Baker Street Ende des 19. Jahrhunderts nur bis Nummer 100. Arthur Conan Doyle hat die 221 B erfunden, um seinem Helden Sherlock Holmes eine respektable Unterkunft in guter Londoner Wohngegend zu verschaffen. Schön zentral, vor allem so, dass die Bahnhöfe mit ihren Verbindungen in unterschiedliche Himmelsrichtungen alle etwa gleich gut erreichbar sind. Denn er reist viel, der berühmte Privatdetektiv. In einer Zeit, wo man nicht so mobil ist wie heute – wo das Tempo der Droschken das Maß der Dinge ist und die 140 km/h mit dem Zug einem normalen Menschen die Haare zu Berge stehen lässt. Wo ein Ausflug ins eigentlich recht nahe gelegene Dartmoor schon beinahe exotisch anmutet, von der Schweiz, Deutschland oder Frankreich einmal ganz abgesehen.
In der Baker Street 221 B lebt also Sherlock Holmes in einer Art Wohngemeinschaft mit seinem besten Freund, dem Arzt Doktor Watson, der mit einer Verletzung aus dem Zweiten Afghanischen Krieg zurückkam. Ein Schuss in Arm oder Bein – Doyle hält sich damit nicht auf, verwechselt in einer Geschichte sogar den Vornamen John mit James. Aber darum geht es auch nicht. Dieser Kosmos, den dieser faszinierende Autor erfindet, ist so voller Details und wunderbarer Beobachtungen. Ein kleines Universum für sich, dessen Mittelpunkt die berühmte Wohnung des Meisterdetektivs bildet. Im ersten und zweiten Stock logiert er. Mrs. Hudson, der das Haus eigentlich gehört (und die man vor allem daher kennt, dass sie den Besuchern die Türe aufmacht, Briefe überreicht oder einfach nur den Tee bringt), lebt im Erdgeschoss. Sie ist irgendwie immer da, um die Tür auf oder zuzumachen. Fast verstohlen und mit kindlicher Freude beäugt sie unaufdringlich das Tun ihrer zwei kapriziösen Untermieter. Dann ist es irgendwann nur noch Holmes, weil Watson heiratet und auszieht – eine Art Krisenmoment für Holmes, der soziophob, vielleicht schüchtern oder einfach nur mit Denken und anderen Dingen beschäftigt ist.
Chemischen Experimenten zum Beispiel. Um neueste kriminalistische Methoden zu erproben, zu verbessern und zu erfinden. Dabei fast das ganze Haus abfackelt oder zumindest die Feuerwehr auf den Plan ruft. Ohrenbetäubend Geige spielt, um der Virtuosität des Geistes einen musischen Ausdruck zu verleihen. Das ganze Zimmer vermüllt, weil er wieder irgendeine Droge eingeworfen oder gespritzt hat, wenn es mal keinen Fall gibt. Das Denken im Leerlauf durchdreht. Denn so oder so ist er ein Junkie. Der Verstand muss auf Hochtouren laufen. Läuft auf Hochtouren, nur nicht unbedingt immer sinnhaft. Wenn es nichts zu erkunden, zu beobachten, zu deduzieren gibt, muss die Leere mit anderem gefüllt werden.
Kein Wunder, dass Conan Doyle sich zunehmend bedrängt von seiner Kreatur fühlte. 1887 erscheint die erste längerer Geschichte „A Study in Scarlett“ in einem kleinen, unbedeutenden Blatt. Er verramscht sie für £ 25, wird sein Lebtag keinen einzigen Cent von den vielen Neuauflagen zu sehen bekommen. Zuerst hat er große Freude an seiner Schöpfung. Und schnell entwickelt das neu geschaffene Universum eine Eigendynamik. Sein Bruder zeichnet in einer ersten Illustration den Detektiv noch mit Schnauzbart, der Zeichner Sidney Paget allerdings, der die Optik in den nächsten Jahren entscheidend mitprägen wird, wählt seinen attraktiven jüngeren Bruder als Modell für Holmes. Und wer auch immer Holmes auf der Bühne oder in Film und Fernsehen spielen wird, misst sein Aussehen an diesen Illustrationen.
1893 bereits, hat Conan Doyle den Sherlock satt. Er beschließt, Holmes umzubringen. Dafür erfindet er den legendären Widerpart Professor Moriarty, und greift dafür auf den realen Zeitgenossen und Superschurken Adam Worth zurück, den man den „Napoleon des Verbrechens“ nennt, und der Scotland Yard wie eine Bande Vorschuldkinder aussehen lässt. Moriarty ist das Negativ des Detektivs – ein Schatten, ein Doppelgänger, der nur um den Preis des eigenen Lebens ausgelöscht werden kann. In einem Showdown stürzen beiden im Kampf ineinander verschlungen den Meiringer Reichenbachfall herunter. Das Publikum ist entsetzt. Für viele waren Holmes und Watson reale Menschen. Das Strand Magazine, in dem die Geschichte erscheint, entgeht knapp dem Bankrott durch den Entrüstungsstürm der Leser.
Der Autor widmet sich zehn Jahre lang anderen Dingen zu. Spiritistischen Sitzungen, Golf, Billard, Reisen, Forschung, schreibt Artikel über so ziemlich alles, schreibt historische Romane, Science-Fiction – und kehrt dennoch aus freien Stücken in die Baker Street zurück. So, als bräuchte die Welt eine Ecke, in der noch alles so ist, wie es immer war.