Irrfahrt im Schneeglas


Es ist wie im Märchen. Die Verhältnisse sind klar geordnet. Da ist ein Herrn, der gibt den Ton an – bezahlt dafür noch nicht einmal – und ein Knecht, der genau das tut, was der Herr ihm sagt. Nützt ja auch nichts, etwas anderes zu tun, denn der Herr weiß es nur dann nicht besser, wenn er selber nicht mehr weiter weiß. Diese zwei archetypischen Figuren reiten also gemeinsam aus. Es dämmert bereits, egal! Es gilt ein Schnäppchen zu machen. Der Herr will sich vergrößern. Zuvorderst materiell, da die äußere Erscheinung der Widerschein der persönlichen Bedeutung ist. Er kann stolz auf das sein, was er erreicht hat, denn sein Vater war nur ein einfacher Bauer, und durch eigene Klugheit und Anstrengung ist der dorthin gekommen, wo er jetzt ist. Ein kleines Licht, mit der Berufung zum stattlichen Feuer. Und wer so berufen ist, der schreckt nicht zurück vor Widrigkeiten oder kleinen Hindernissen. Wachstum geht mit Mühsal Hand in Hand. Wassili Andrejitsch, der Herr, hat einen ganz klaren Plan der Welt im Kopf. Die Orientierungspunkte sind zentimetergenau abgesteckt. Dort geradeaus, zweimal rechts, dann kommt die alte Eiche – ein Kinderspiel. Nikita fährt mit im Schlitten und ist der glänzende Sündenbock dafür, wenn die Eiche nicht dort steht, wo sie stehen sollte.

Alles wäre so einfach gewesen, wäre es Tag, und die Sonne schiene, die Wiesen wären grün und die Arbeiter auf dem Feld würden vom Wegesrand zuwinken. Doch in Eis, Sturm und Schnee gelten andere Gesetze. Hier versagt die Orientierung, hier gibt es kein GPS-Signal. Es ist wie mit Schrödingers Katze: Sie ist so lange gleichzeitig tot oder lebendig, bis man nachschaut. So ist die alte Eiche entweder da oder nicht. Man findet sie nicht, in dem man zweimal rechts abbiegt. Wassili aber gibt nicht auf, entscheidet neu, ist unermüdlich bereit, weiterzusuchen und den Weg zu finden. Nikita ist das egal. Er zieht sich aus der Verantwortung, gibt sich der fremden Entscheidungsgewalt hin. Er muss nicht denken, das wird ihm abgenommen. Sein Ziel ist es, dort wieder anzukommen, wo er losgefahren ist. Auf die Fahrt hätte er verzichten können.

Es ist die Natur der Neudichtung, alte Geschichten neu zu erzählen. Sie kann nur aus dem eigenen Erleben, dem Abgleich mit den eigenen Erfahrungen und Gedanken, der eigenen Sprache und Musik erzählt werden. Tolstois Erzählung ist eine Parabel. Der alte Meister widmet sich in seinem späten Schaffen vermehrt dieser Form. Es geht um grundsätzliche Fragen der menschlichen Existenz und der Einordnung dieser in einen großen Gesamtzusammenhang, der Gott genannt werden könnte. Zu Gott gehören hier weniger die alten Geschichten, die man aus der Bibel und anderen Büchern kennt. Es gilt – wie es der Theologie Dietrich Bonhoeffer beschreibt – sein Leben so zu führen, als ob es Gott nicht gäbe und einzig dem Bespiel des Christus zu folgen. Sich einem Sinnzusammenhang hinzugeben, der unbegreiflich ist, und dabei doch zu wissen, dass man Teil von ihm ist.

Die Corona-Pandemie zwingt uns zur Auseinandersetzung mit diesen existentiellen Themen. Der Versuch, aus Zahlen und Beobachtungen Orientierung zu gewinnen – Angst und Ohnmacht mit rationaler Abwägung zu begegnen und dabei immer wieder am Ausgangspunkt zu landen, ist das Thema von Manuels Neudichtung. Das Absurde ist hier Gesetz, der Versuch das Absurde zu bezwingen, absurd, und doch das einzige was übrig bleibt. Halt suchen, einen Punkt finden – wiederzufinden – an dem man den seidenen Faden der eigenen Existenz hängen kann, um nicht verweht zu werden im magischen Schneeglas, wo die Symbole keine Anhaltspunkte mehr sind und die Weiser keine Richtung zeigen.

(Florian Wetter)
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